Westfälischer Humanist brachte einst Rietberg ins Spiel

VON MANFRED STRECKER

Rietberg. Im Teutoburger Wald oder in Kalkriese? Historisch wurde die Varusschlacht, bei der Hermann der Cherusker 9 n. Chr. drei römische Legionen vernichtete, auch in anderen Regionen lokalisiert. Bis ins 15. Jahrhundert galt die Gegend um Augsburg als Austragungsort. Doch der aus Lippstadt stammende Humanist Johannes Cincinnius wusste es nach ausgiebigem Studium der antiken Quellen besser: Die Varusschlacht wurde zwischen Ems und Lippe bei Rietberg im heutigen Kreis Gütersloh geschlagen.

Diese Erkenntnis hatte Cincinnius 1539 in einer Flugschrift mit einem umständlichen Titel verbreitet: „Van der niderlage drijer Legionen unde meren Römischen krijgsfolcks, mit jrem Capitaneo Quintilio Varo, by tyden de gebort Christi, under Julio Cesare und Octaviano Augusto, gescheit jn Westphalen, tuschen den wateren der Emesen und der Lippen, by dem Retborge und jn der Delbruggen“.

Cincinnius referierte in seinem Werk die damals gerade aufgefundenen antiken Darstellungen der Varusschlacht von Tacitus und Velleius Paterculus ausführlich und getreu auf Deutsch. Nur in einem Punkt wollte er den Quellen nicht folgen. Im lateinischen Text des Tacitus entdeckte er seiner Meinung nach einen Druckfehler; statt „Teutoburger Wald“ („teutoburgiensis“) müsste es richtig „Reutoburgiensis saltus“, also Rietberger Wald heißen. Zu Cincinnius’ Zeit hieß das hiesige Waldgebirge schließlich noch „Osning“ und wurde erst im 17. Jahrhundert in Teutoburger Wald umbenannt.

Ein Faksimile von Cincinnius’ Schrift, von der nur ein 1922 in der Düsseldorfer Universitäts- und Landesbibliothek entdecktes Originalexemplar bekannt ist, wird derzeit in einer Sonderausstellung des Münsteraner Stadtmuseums, „Plattdeutsch macht Geschichte“, gezeigt. Eine nähere Darstellung und Bewertung des Werks gab der emeritierte Münsteraner Experte für die deutsche Literatur des Mittelalters, Volker Honemann, 2008 in einem Vortrag; er ist in einem jüngst erschienen Sammelband über die literarischen Niederschläge der Hermannsschlacht nachzulesen.

Johannes Kruyshaer de Lippia, geboren in den frühen 80er Jahren des 15. Jahrhunderts, der seinen Namen später zu Cincinnius (gekräuseltes Haar) latinisierte, war 1505 in den Dienst der Reichsabtei Werden an der Ruhr eingetreten. Er hat dort vor allem als Bibliothekar und Archivar bis zu seinem Tod 1555 gearbeitet. Seine Schrift über die Varusschlacht ist nach Honemanns Ermittlung der bisher früheste bekannte niederdeutsche Text zur Varusschlacht und auf jeden Fall die älteste selbstständige niederdeutsche Publikation dieser Geschichte.

In der Einleitung seiner Schrift weist Cincinnius darauf hin, dass etliche hundert Jahre niemand habe sagen können, wo die Varusschlacht geschlagen worden war. Er freue sich, was er seinen Landsleuten nicht vorenthalten wolle: dass die neuerschlossenen Quellen Westfalen als Schauplatz nennen. Ganz Westfalen könne sich rühmen, dass die Römer einen solchen bedeutenden Verlust auf dem Höhepunkt ihres Ruhms und ihrer Blüte gerade in „vnser landtschop“ erlitten hätten.

Weit entfernt, die Figur des Hermann zu idealisieren und deutsch-national zu überhöhen, erkennt Honemann Heimatstolz als Triebfeder Cincinnius’. Er habe als erster deutscher Autor alle zu seiner Zeit bekannten antiken Quellen zur Schlacht in volkssprachiger Übersetzung veröffentlicht, um seinen Landsleuten ein zentrales Ereignis ihrer Frühgeschichte zu vermitteln.

´ Plattdeutsch macht Geschichte. Bis 8. Februar im Stadtmuseum Münster. Di. bis Fr. 10 bis 18, Sa., So. 11 bis 18 Uhr.

Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Hermanns Schlachten. Zur Literaturgeschichte eines nationalen Mythos. Aisthesis-Verlag, 347 S., 34,80 Euro.

So zweifelsfrei, wie es einmal den Anschein hatte, gilt Kalkriese im benachbarten Osnabrücker Land nicht mehr als Austragungsort der berühmten Varusschlacht. Es darf wieder spekuliert werden, wie es vor beinahe 500 Jahren auch ein Humanist aus Lippstadt tat.