von Andreas Otte (überarbeitet aus Zeitensprünge 2007/03)

Die Auffindung

Nach herrschender Lehre sind von Tacitus (ca. 55 – nach 116) fünf Werke überkommen: Agricola, Germania, Dialogus de oratoribus, Historiae (von 69 bis 96) und die Annales des römischen Reichs, die in ihrer verstümmelten Form von 14 bis 68 reichen.

Das einzig erhaltene Manuskript mit den Annalen 1-6 des Tacitus soll 1505 im Kloster Corvey bei Höxter von einem weltlichen Gelehrten aufgefunden worden sein [Friebe 1999, S. 6]. Noch bevor der Text vor Ort entziffert werden konnte, verschwand er unter ungeklärten Umständen, um wenig später in Rom in päpstlichem Gewahrsam (Leo X.) wieder aufzutauchen, angeblich für viel Geld von Dieben gekauft. Sicher ist jedoch eine Erwähnung des Codex in einen Brief von Kardinal Soderini aus dem Jahre 1509. 1515 wurde dann eine aufgelöste und entzifferte Version des Textes vorgestellt. Das „Original-Manuskript“ liegt heute in Florenz in der Biblioteca Medicea-Laurenziana unter den Namen Pluteo 68.1. [Mendell 1970]

Das Kloster Corvey erhielt nur eine Abschrift/Kopie des Manuskriptes und ewigen Ablass zum Ausgleich. Fraglich ist, ob der Codex Mediceus, wie das Corveyer Manuskript auch genannt wird, wirklich noch so echt und vollständig ist, wie er aufgefunden wurde. Es fehlen ganz zufällig ein paar Jahre, die für den christlichen Glauben sehr interessant wären, so das Jahr 29 teilweise, 30 und 31 ganz, und vom Jahr 32 der Anfang. Die bis zu 10 Jahre zwischen Auffindung und „Veröffentlichung“ bieten zudem genügend Zeit für eine veränderte „Originalkopie“. Hinzu kommt, dass das Tacitus-Manuskript um 850 in Fulda oder Hersfeld von einem Text des 3. oder 4. Jahrhunderts abgeschrieben worden sein soll; ein Verweis auf Tacitus mit Bezug auf die Tacitus-Annalen in den Annales Fuldenses für 852 stützt dieses Datum für die Forschung. Danach soll der Codex bis zu seiner angenommenen Auffindung in Corvey nicht wieder kopiert worden sein.

Hier läge also nach dem traditionellen Forschungsstand ein echtes karolingisches Manuskript vor. Die Schrift des Codex ist zunächst pre-karolingisch und geht dann mitten im Text in karolingische Minuskel über. Zu dieser Problematik hat bereits Paul C. Martin ausführlich Stellung genommen [Martin 2000]. Im 7. und 8. Jahrhundert gibt es interessanterweise keinerlei bekannte Verweise und Hinweise auf Tacitus. Die ersten Bücher der Annalen des Tacitus werden nach Ptolemäus im 2. Jd. erst wieder im 9. Jahrhundert direkt zitiert [Mendell 1970, S. 238].

Die Frage nach der Authentizität des Codex Mediceus ist daher berechtigt und muss gestellt werden dürfen.

Übersetzungsprobleme

Typisch für vielfach abgeschriebene lateinische Texte ist, dass Wortzwischenräume weggelassen wurden, die Wörter zuweilen nicht mehr einfach erkennbar sind und erst wieder neu erkannt werden müssen. Der Text wird dann mit der entsprechenden „Skansion“ gelesen. Diesen Vorgang nennt man auch „Auflösung“. Dabei kann es zu Fehlern kommen. Klassisch wird z.B. ein Satz aus den Annalen 1/60 wie folgt aufgelöst:

„ductum inde agmen ad ultimus Bructerorum, quantumque Amisiam et Lupiam amnes inter vastatum, haud procul Teutoburgiensi saltu, in quo reliquiae Vari legoinumque insepultae dicebantur“

Eine entsprechende Übersetzung [Heller 2002] ins Deutsche lautet:

„von da aus wurde das Heer in die entlegendsten Teile des Bruketerlandes geführt und alles Gebiet zwischen Ems und Lippe verwüstet, nicht weit vom Teutoburger Wald, in dem, wie es hieß, die Überreste des Varus und seiner Legionen noch unbestattet lagen“

Im „Orignial“ in Florenz steht „haudproculteutoburgiensisaltu“ ohne Zwischenräume [persönliche Inaugenscheinnahme durch F.H. Rainer Friebe], in der Reproduktion des „Originals“ [Sijnthoff 1902] steht dagegen „haud proculteuto burgiensisaltu“. Traditionell wurde zu „haud procul teutoburgiensi saltu“ aufgelöst, wobei „teutoburgiensi“ als Eigenname eines „saltus“ zu verstehen ist.

Annalen 1/60

Bezeichnend ist die sichtbare Trennung von „proculteuto“ und „burgiensisaltu“ in der Reproduktion von 1902. Insgesamt macht das Schriftbild der Reproduktion eher den Eindruck, es würde aus dem 16. Jahrhundert stammen. Es ist also durchaus möglich, dass nicht der angeblich karolingische Codex reproduziert wurde, sondern eine der im 16. Jahrhundert erstellten Abschriften. Aber diese Reproduktion zeigt mindestens, dass mit der Auflösung experimentiert wurde, die traditionelle Skansion damit in Zweifel gezogen werden kann.

Zunächst: Was ist ein Saltus? Wenn man in heutige Wörterbücher hineinschaut, dann findet man für „saltus“ 1. Sprung und 2. Waldtal, Schlucht, Pass, Waldgebirge, Weideplatz, Landgut, weibliche Scham, bedenkliche Lage [Pons 2003]. Wald oder Waldgebirge wurde hier offensichtlich als Übersetzung verwendet.

Ein „saltus“ ist jedoch auch ein römisches Flächenmaß, ein „saltus“ entspricht 2015,1267 ha [Kottmann 1988, 147]. Es diente der Größenbestimmung von Landgütern/Domänen, die ebenfalls „Saltus“ genannt wurden. „Saltus“ kommt in klassischem Latein auch in Kombination mit „silva“ (Wald) und „collis“ (Berg) vor, dann ist ein Gebiet gemeint, das über Wälder oder Berge verfügt. Eine Übersetzung von „saltus silva“ mit „Wald Wald“ macht wenig Sinn. Die allein stehende Bedeutung von „saltus“ als Wald ist daher wahrscheinlich eine Konstruktion des scholastischen Lateins verursacht durch die Fehlinterpretation eben dieser Tacitus-Stelle, die dann Eingang in unsere heutigen Latein-Wörterbücher gefunden hat. Wörterbücher von heute sind daher wohl kaum als Übersetzungs-Kronzeugen geeignet.

Und was ist mit „teutoburgiensi“? Eine zur Reproduktion kompatible Auflösung von „teutoburgiensi“ ist nach Friebe [S.51] „te ut o burgi ensi“ bzw. nach neueren Angaben im Web [http://www.varusschlacht-am-harz.de] „te uto burgi ensi“:

te
Akkusativ von „tu“ te=dich, evtl. Ablativ des Pronomen „tu“, eigentlich „a te“=von dir, oder auch ein nicht komplett geschriebenes „tute“, Adverb von „tutus“=gesichert
ut
wie, räumlich wo, Konjuktion, indikativ gerade als
o
oh, ach, Interjektion. Ausruf der Klage. Als „o.“ aber auch Vokabelkürzel für z.B. „omnio“=völlig
uto (alternativ)
ist Konjunktion Indikativ von „ut“ im Sinn von gerade als durch
burgi
Türme, Nominativ Plural. Abgeleitet von griechischen „Pyrgos“. Lehnwort, oft (z.B. am Limes) verwendet statt „turris“
ensi
Schwert, Dativ Singular von ensis

Diese Auflösung verwendet Vokabeln, die es im Lateinischen tatsächlich gibt, man muss nicht auf ein erfundenes „teutoburgiensi“ zurückgreifen.

Eine andere Unstimmigkeit innerhalb der Annalen 1/60 ist die Bezeichnung amisiam et lupiam, die üblicherweise mit dem Flüssen „Ems und Lippe“ gleichgesetzt wird. Hier gibt es aber ein Problem: Das Wortgeschlecht für Flüsse im Lateinischen ist männlich (Zuordnung eines männlichen Gottes). Da für Namen römischen Ursprungs die a-Deklination für die Endung „ia“ weibliches Wortgeschlecht unterstreicht, scheiden amisiam und lupiam (a-Deklination, Akkusativ singular) schon grammatikalisch als Flüsse aus. Erst im späten Vulgärlatein war auch das weibliche Geschlecht für Flüsse zulässig.

Es könnte sich bei amisam und lupiam alternativ um Orte an einem Fluss handeln. Claudius Ptolemäus kennt in seiner Geographika hyphegesis z.B. einen Ort Amisa an der Weser. Diese Interpretation wäre allerdings noch gegen andere Textstellen, die amisiam oder lupiam verwenden, zu prüfen.

Unter diesen Annahmen ergibt sich folgende, sicherlich noch verbesserungsfähige, Übersetzung der berühmten Textstelle [Friebe 1999, S. 52]:

„von dort wurde das Heer zu den äußersten (Grenzen) des Bruketergebietes geführt, soweit es sich zwischen Amisia und Lupia am Strom (hinzog), nicht eben weit entfernt von dir, dem Saltus der verwüstet worden ist, ob gerade als Türme und Schwert ihn sicherten, in dem die Überreste des Varus und seiner Legionen unbestattet (lagen) und deshalb noch nicht von den Göttern aufgenommen waren“

Rezeption

Wie wurden die Tacitus-Annalen nach ihrer Auffindung in Bezug auf diese Verortungen rezipiert?

Der Humanist Cluverius sah 1616 im Osning den Teutoburger Wald, Pastor Pideritus schloss sich 1627 dieser Meinung an. Ferdinand von Fürstenberg, Fürstbischof von Osnabrück, taufte dann 1669 in seiner Monumenta Paderborniensa, den Osning endgültig in Teutoburger Wald um. Danach findet sich in Landkarten, vorzugsweise von Ferdinand von Fürstenberg herausgegeben, Teutoburger Wald statt Osning [Friebe 1999, S.168]. Das bedeutet, dass bevor die Tacitus-Annalen aufgefunden wurden und in der gewählten Auflösung der Eigenname „Teutoburgiensi“ auftauchte, es keinen Teutoburger Wald als Eigenbezeichnung gab.

Nach Friebe [S. 163-169] finden sich zudem die Namen Amisia und Lupia für Ems und Lippe erst ab dem 17. Jahrhundert auf gedruckten Karten, ältere (handgezeichnete) Karten tragen noch andere Namen, z.B. Lamizon und Lippa. Die Auffindung der Tacitus-Annalen hatte also auch erstaunliche Auswirkungen auf den Namensbezeichnungen in Karten.

Ergebnis

Die Annalen des Tacitus sind sowohl von ihrem Text her (über die Auffindung) als auch in ihrer Übersetzung nach Friebe fragwürdig. Was bleibt denn nun von den Verortungen im gewählten Beispielsatz, auf die sich eine Lokalisierung der Varusschlacht im Lipperland auf Basis der Tacitus-Annalen berufen kann?

  1. Eine Domäne als Austragungsort der Schlacht, die irgendwo gelegen haben kann, wo sich eventuell Fundamentreste römischer Wachturmanlagen finden.
  2. Zwei Orte an einem Fluss in der weiteren Umgebung des Schlachtfeldes. Vielleicht handelt es sich um den Fluß Visurgis=Weser? Dann würde sogar eine Stelle in den Annalen 1/70 Sinn machen, die bisher von den Übersetzern, welche die Amisia mit der Ems gleichsetzen, als ein Irrtum des Tacitus angesehen werden muss.

Selbst wenn die Übersetzungskritik nicht greift, dürfte deutlich geworden sein, dass es bis zur Auffindung der Annalen keinen „Teutoburger Wald“ gegeben hat. Es ist also Vorsicht angeraten, die Verortung der Varusschlacht in Lippe auf diesen Quellen und Übersetzungen basieren zu lassen.

Literatur

Anwander, Gerhard (2007) : Auf den Spuren der Germania und anderer Fälschungen; in ZS 19 (2) 413-442
Fürstenberg, Ferdinand von (1990): Monumenta Paderbornensia (Denkmale des Landes Paderborn); Nachdruck der Ausgabe von 1844; Paderborn
Friebe, F.H. Rainer (1999): „gesichert von Türmen geschützt vom Schwert, …“; Halberstadt
Heller, Erich (20024): Tacitus Annalen (Sammlung Tusculum); Düsseldorf/Zürich
Kottmann, Albrecht (1988): Uralte Verbindungen zwischen Mittelmeer und Amerika; Stuttgart
Kupcik, Ivan (1992): Alte Landkarten. Von der Antike bis zum Ende des 19. Jahrhunderts; Hanau
Martin, Paul C. (2000) : Was las man denn zur Karolingerzeit? Teil 1; in ZS 12 (3) 449-475
Mendell, Clarence W. (1970): Tacitus. The man and his work; Reprint der Ausgabe von 1957, Yale
Pearse, Roger (2005): Tacitus and his manuscripts; http://www.tertullian.org/rpearse/tacitus/index.htm
Pons (2003): Wörterbuch für Schule und Studium Latein-Deutsch; Stuttgart
Sijnthoff, A.W. (1902): Codex Laurentianus Mediceus 68 I; Photographische Reproduktion, Lugduni Bat.