Einleitung

Heribert Klabes arbeitete nach Ende des 2. Weltkriegs als Baustellenleiter an der Behebung der schlimmsten Kriegsschäden am Westwerk der Kirche von Kloster Corvey bei Höxter. Schon damals fielen ihm einige Merkwürdigkeiten und Ungereimtheiten im Zusammenhang mit dem baulichen Befund des Westwerks und seiner offiziellen Baugeschichte auf. Bis zu seinem Tode im Jahre 2001 beschäftigte er sich mit diesem Bauwerk und identifizierte das Ur-Westwerk aufgrund zahlreicher Indizien (verwendeter Mörtel, Säulenstile, Bemalung, etc.) in seinem Kern als ein römisches Bauwerk aus augusteischer Zeit.

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Die offizielle Baugeschichte der 1. Klosterkirche

Nach der aufgeschriebenen Baugeschichte entstand zunächst die Klosterkirche, das Westwerk wurde später angebaut:

  • 821: Kauf des Geländes durch Ludwig den Frommen.
  • August 822: Grundsteinlegung der ersten Klosterkirche.
  • September 822: Umzug in die ersten Gebäude.
  • 844: Einweihung der 1. Klosterkirche.
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  • 870: Erweiterung durch Chorneubau.
  • 873: Grundsteinlegung „trium turrium“ (Westwerk).
  • 885: Weihe „trium turrium“.
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  • 10./11. Jahrhundert: Renovierung
  • 1665: Abriss der Klosterkirche, das Westwerk bleibt stehen

Merkwürdigkeiten am Bau

Klabes fielen allerdings einige Merkwürdigkeiten auf, als er sich mit der Restaurierung beschäftigte:

  • Das Westwerk hat umlaufende Ringfundamente, es ist ein eigenständiges Bauwerk.
  • Das echte Bodenniveau des Westwerkes liegt ca. 50 cm tiefer als das der ausgegrabenen ersten Klosterkirche.
  • Das Westwerk bekam später einen Boden, der die Säulenfüße verdeckte und das Niveau im Westwerk dem der ersten Klosterkirche anglich. Die folgenden Bilder dokumentieren die Situation:
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  • Die zentralen Säulen im Westwerk weisen die folgenden Merkmale auf:
    • attisch antike Basis, korinthisches Kapitell.
    • Der Schaft verjüngt sich vom 2/3 Punkt ihrer Länge.
    • Zweireihiges Akanthuskapitell.
    • Überhöhung des Kapitells durch einen würfelartigen, architraven Kämpferansatz.
    • Der Einbau der Kapitelle erfolgte in Bossenform.
    • Die künstlerische Ausformung der Kapitelle wurde abgebrochen.
    • Die korinthischen Kapitelle weisen sowohl klassisch griechische als auch frühe römische Formelemente auf.
    • der Ausformung der Säulen erfolgte nach den Regeln des Marcus Vitruvius Polio „Vitruv“.
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  • Die erste Bemalung der Innenräume ist nicht christlich, sondern erzählt antike Sagen.
    • Fresken mit antiken Sagenfiguren in frühkaiserlich-römischer Darstellung, Vergleiche mit Pompeji werden gemacht:
      • Venus und Amor mit Delphinen
      • Heracles
      • Sphinx
      • Schiffe
    • Dekormalereien
      • gemalte korinthische Säulen
      • dekorierte Wandflächen
      • Gewölbe und Grate
    • Es wurde bei der Ausmalung ein seltenes Azurit-Blau verwendet, das im frühen Mittelalter nicht mehr bekannt war.
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  • Wesentliche Teile des Westwerkes wurden mit witterungsbeständigem Kalk-Ziegelkleinmörtel gebaut im Gegensatz zur Klosterkirche und späteren Auf- und Umbauten des Westwerkes, die in Luftkalkmörtel erfolgten und schnell wieder verfielen.
    • Luftkalkmörtel: Einfacher Kalkmörtel, nicht sehr witterungsbeständig
    • Ziegelkleinmörtel: ca. 300 v. Chr. erkannten die Römer die außerordentliche Wirkung der Beimischung von Vulkanasche zu Kalkmörtel. Es entsteht ein witterungsbeständiger, zementartiger Mörtel. Zu Beginn der Kaiserzeit erkannte man, dass auch Ziegelklein (zerkleinerte Ziegelsteine) diese Wirkung hat.

    Kein wirklich gesichert den Karolingern zugeschriebenes Bauwerk verwendet Ziegelkleinmörtel.
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  • Teilweise wurden Fensterbögen als „etruskische Bögen“ ausgeführt. Diese Bögen sind heute „wegrestauriert“, d.h. hinter normalen Bögen versteckt.

Eine alternative Baugeschichte

Aus den oben genannten Merkwürdigkeiten ergibt sich ein ganz anderes Bild, als es die offizielle Baugeschichte wiedergibt:

  • Die Bausubstanz des Ur-Westwerks ist antik, darauf deuten besonders das Bodenniveau, aber auch der verwendete Mörtel, die Säulen, die Bemalung, usw. hin. Welchen Sinn würde es z.B. machen, den Boden im nachträglichen Anbau tiefer zu legen?
  • Das Westwerk ist ein eigenständiges Gebäude gewesen, das von den Mönchen übernommen wurde.
  • Die 1. Klosterkirche ist ein Anbau an das bestehende Westwerk. Die Rekonstruktion von Uwe Lobbedey, welche die Westmauer der Kirche im Ostraum des Westwerkes sieht, ist wohl durch die vorgegebene Baugeschichte bestimmt. Wie hätte man in dieser Situation das Westwerk anbauen können, ohne das die 1. Kirche eingestürzt wäre? Hier können nur erneute Grabungen Klärung bringen.
  • „trium turrium“ ist daher eine Renovierung und Aufstockung des Ur-Westwerks durch die Mönche. Die Tatsache, dass die zum Westwerk gehörigen Vorlagen des Bogens zwischen Westwerk und Langhaus den Estrich des Langhauses durchschlagen, dokumentiert nur die unbestrittenen Um- und Anbauten der Mönche.

Aber wie kommt ein antikes Steingebäude an die Weser bei Höxter?

Die Römer in Germamien

Eine Phase der Okkupation Germaniens ist besonders interessant:

12 v. Chr.: Vorstoß über die Flüsse Ems, Weser, Elbe, Oder, …
11 v. Chr.: Marsch entlang der Lippe bis zur Weser
10 v. Chr.: Marsch den Main aufwärts (=> Lager Hedemünden?)
9 v. Chr.: Vorstoß bis zur Elbe (oder die Oder?) auf dem Landweg
Aufbau einer germanischen Provinz, Städtebau, Entstehung von „civitas“ (Städten), von „saltus“ (Domänen)
6 n. Chr,: Varus übernimmt die Leitung der germanischen Provinz
9 n. Chr.: Die Varus-Schlacht
15 n. Chr.: Neuaufbau der Weser-Lippe-Kette
16 n. Chr.: gescheiterter Versuch der militärischen Rückgewinnung, Aufgabe der Provinz. Aber auch das Ende der römischen Präsenz?

Quellen

Informationen über diese Geschehnisse sind uns von folgenden Autoren erhalten:

  • Cassius Dio
  • Tacitus
  • Florus
  • Strabo
  • Velleius Paterculus
  • Svetonius Gaius

Zitate aus gegenwärtigen, aber zum Teil auch fraglichen Übersetzungen der Texte dieser Autoren:

Florus: „… außerdem legte er (Drusus) zur Sicherung der Provinz Besatzungen und Wachtürme hin und an der Weser entlang.“

Cassius Dio: „… ihre Truppen überwinterten dort, auch wurden Städte gegründet, und die Germanen fingen an, sich an die neue Ordnung zu gewöhnen.“

Cassius Dio: „… von da zog er (Drusus) zum Land der Cherusker, überschritt (dabei?) die Weser und zog an die Elbe.“

Die Lippe-Weser-Kette

Entlang der Lippe sind römische Lager gefunden worden bzw. werden vermutet

  • gefundene Lagerstandorte:
    • Holsterhausen (1)
    • Haltern (2)
    • Oberaden (4)
    • Anreppen (8)
  • vermutete Lagerstandorte durch Klabes:
    • Datteln (3)
    • Kentrop (5)
    • Lippborg (6)
    • Kappel (7)
    • Neuenbeken (9)
    • Brakel (11)
    • Höxter (12)

Der Endpunkt der Lagerkette an der Weser bei Höxter

  • Die höxtersche Landwehr (Wallanlagen, Turmfundamente teilweise mit Ziegelkleinmörtel).
  • Lagerstandorte (2 Phasen, Luftbildaufnahme, heute überbaut, Testgrabungen nicht eindeutig).
  • Siedlungsreste unterhalb der Propstei „tom roden“. Fund einer Bleirohr-Wasserleitung nach römischen Maßen.
  • Der Grube-Kanal, später Straße (Hellweg im Mittelalter).
  • Die untergegangene Parallelstraße zum Kanal (83 m Abstand = 50 passus).
  • Der Endpunkt der Straße – Das Westwerk von Corvey (vom ehemaligen Tor ist nur noch ein Turm zumindest als Position vorhanden).

Ein limitiertes Tal?

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A: Hinweise auf zwei Lager
B: Klostergelände Corvey
C: Bleirohre bei „tom roden“
E: Untergrundstraße
F: Grube-Kanal
H: Weser

Die Viersäulenhalle

In einer ersten Bauphase sieht Klabes eine kleine Virsäulenhalle.

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Auch im Lager Oberaden gibt es Hinweise auf eine hölzerne Viersäulenhalle: Gleiche Größe, Gleiche Lage

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Das Ur-Westwerk – ein Quadrifrons

In einer späteren Bauphase wurde die Viersäulenhalle überbaut und Teil eines größeren Gebäudes:

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Dieser Komplex ist erbaut mit Kalk-Ziegelklein-Mörtel, nachträgliche Einbauten in den Randsäulen der Viersäulenhalle sind erkennbar, d.h. die alte Halle wurde erweitert.

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In Nordafrika finden sich die Reste einer vergleichbaren Anlage (ca. 150 n. Chr.)

Die „civitas“

Der Quadrifrons war nur der zentrale Teil einer größeren Anlage, hier als Rekonstruktion dargestellt:

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a) Straße
b) Kanal
c) Graben
d) Tore/Türme
e) Quadrifrons
f) Weserbrücke

Die Mauern der civitas

  • Auf und neben den Fundamenten der ehemaligen Mauern der civitas stehen heute die barocken Umfassungsmauern des Klosters.
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  • Das große Tor (2 Türme, jeweils 8,2 m) an der Weserseite (Hirsch-Tor) wurde erst im späten Mittelalter mit viel Arbeitseinsatz abgerissen. Die Steine wurden für die neue Umfassungsmauer wiederverwendet.
  • Die den Steinen noch anhaftenden Kalk-Ziegelkleinmörtel-Reste wurden erst vor ganz kurzer Zeit mit modernen Mitteln entfernt.

Schon 1958 waren die römischen Anklänge aufgefallen:

„Man kann jetzt wohl nicht mehr die außergewöhnliche Tatsache bezweifeln, dass das Castrum Corbeiense nach dem Schema des römischen Heerlagers angelegt worden ist.“ [Rave 1958]

Die Schrifttafel am Westwerk

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Es handelt sich nach Klabes um eine konstruierte, römische Schrift vom Typ „capitalis quadrata“. Eine chemische Untersuchung erbrachte Hinweise auf vergoldete Kupfer-Verstiftungen und vergoldete Kupfer-Buchstaben. Die Tafel war mit Ziegelklein-Mörtel vermauert und ist Teil einer Fensterbank, daher kann es (unter der Annahme, dass im frühen Mittelalter derartiger Mörtel nicht bekannt war) kaum eine nachträgliche Anbringung der Mönche nach Übernahme des Gebäudes sein. Die Buchstabenfolge der Tafel


C  I  V  I  T  A  T  E  M  I  S  T  A  M
T  U  C  I  R  C  U  M  D  A  D  NE E  T
A  N  G  E  L  I  T  U  I  C  U  S  T  O
D  I  A  N  T  M  O  R  U  S  E  I  U  S

lässt jedenfalls eine gewisse Anzahl von Interpretationen zu, z.B. eine christliche: „Behüte o Herr diese Stadt und lass deine Engel die Wächter ihrer Mauern sein“ oder auch eine augusteische von Klabes: „Diese Civitas umfasse du, Herr, und deine Boten mögen ihre Mauern bewachen“, wobei Augustus als „Herr“ interpretiert wird. Die Bauinschrift kennzeichnet nach Klabes Meinung das Bauwerk als eine Verehrungsstätte der schutzgewährenden „Lares Augusti“. Die Bauinschrift hing bereits an der Viersäulenhalle. Es gibt aber auch noch weitere Interpretationsmöglichkeiten (mündlich durch Friebe, Rainer F.H.), die hier aber zu weit führen würden.

Weitere Indizien

Es gibt weitere zahlreiche Hinweise für eine antike Entstehung des Westwerkes:

  • Es existiert ein Bericht über einen Fund einer Säule aus rötlichem, geglätteten Marmor bei der Grundsteinlegung der 1. Klosterkirche. Die Grundsteinlegung erfolgte also keineswegs auf der „grünen Wiese“.
  • Es fanden sich Fundamente mit Ziegelkleinmörtel unter dem Choranbau sowie Relikte eines alexandrinischen Mosaik-Fußbodens mit Porphyr-Einlagen.
  • Es gibt Funde von zusammenhängendem, umfangreichem, umgestürztem Mauerwerk auf der Ebene der „karolingischen“ Fundamente – diese können daher nicht selbst karolingisch sein.
  • Nach den Berichten der Mönche benötigte man für die Konventgebäude (130 m lang) nur ein Jahr Bauzeit. Warum wurden dann 22 Jahre für die Kirche mit weniger Baumasse benötigt? Warum wurden die Konventgebäude unter Berücksichtigung des „zukünftigen“ Westwerks gebaut? Oder waren die Gebäude etwa doch längst vorhanden?
  • Textquellen berichten von der „villa regia huxori“, einem „Steinhaus“, welches die Mönche übernahmen.
  • Auf dem Schloßgelände wurde ein Glasschmelzofen gefunden, die Glasschmelzen waren antik/mediterran [Stephan 2000].
  • Ausgrabungen im Umkreis des Klostergeländes zeigen ein weitläufiges, später aufgegebenes Siedlungsgelände [Stephan 2000].
  • Undatierte Funde, z.B. römische Köpfe, die sich heute ohne Beschriftung in der Barock-Ausstellung finden:
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Zusammenfassung

Es ergibt sich folgendes Bild: Mindestens 20 Jahre lang war das Gebiet zwischen Rhein und Weser militärisch fest in römischer Hand. Auch danach hat es zahlreiche Kontakte zwischen Römern und Germanen gegeben. Am Endpunkt der Lippe-Weserkette bei Höxter wurde eine civitas (Verwaltungszentrum) gegründet und mit einem repräsentativen Steinbau versehen. Das Westwerk von Corvey ist daher in seinem Kern ein antikes Gebäude aus augusteischer Zeit. Als erste Baustufe sieht Klabes eine Viersäulen-Halle, die später zu einem Quadrifrons erweitert wurde. Ob dieser Umbau zum Quadrifrons noch in augusteischer Zeit erfolgte oder aber spätantik ist, bleibt noch ungeklärt, die Meinungen hierüber gehen auseinander. Das Gebäude wurde später (wahrscheinlich erst im 10. Jahrhundert) von den Mönchen übernommen und umgebaut. Die Klosterkirche ist ein Anbau an das bestehende Gebäude, das zum Westwerk der Kirche umfunktioniert wurde. Das Westwerk als Kirchenbauform hat daher keine Entwicklungsgeschichte, aber es inspirierte (reduzierte) Nachfolgebauten, die dem Können der damaligen Baumeister entsprachen.

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Besondere Bedeutung kommt den römischen Bleirohrfunden von „tom Roden“ zu, einer Siedlungsstelle in der Nähe von Corvey, die von Dr. Leiermann in seiner ersten Ausbaustufe für eine römische Therme gehalten wird [Leiermann 2005]. Das Blei der Rohre hat eine vergleichbare chemische Zusammensetzung wie ein römischer Bleibarrenfund bei Haltern. Später wurde das Gelände und die Gebäude von „tom Roden“ von den Mönchen als Propstei genutzt.

Literatur

Effmann, Wilhelm: Die Kirche der Abtei Corvey, 1929
Illig, Heribert (1998): „Römisches Corvey? Heribert Klabes‘ These“, in Zeitensprünge JG 10 / Heft 3, Seite 492-496
Klabes, Heribert (1997) Corvey – Eine karolingische Klostergründung an der Weser auf den Mauern einer römischen Civitas, Höxter
Leiermann, Horst (2005): Gelbbuch 2. Aquädukt Hildesheim, Praefurnium tom Roden, Essen
Nitz, Horst und Weeg, H. (2001) : „Heribert Klabes gestorben“, in Zeitensprünge JG 13 / Heft 3, Seite 551-552
Otte, Andreas (2006): Vortragsunterlagen (Corvey), unveröffentlicht
Rave, Wilhelm (1958): Corvey, Münster
Stephan, Hans-Georg (2000): Studien zur Siedlungsentwicklung von Stadt und Reichskloster Corvey, 3 Bände, Neumünster